Ein verändertes Leben

Zu Gast im Sozialpädagogischen Betreuungszentrum Hollabrunn

 

Unzählige Menschen spazieren Tag für Tag über das Gelände des ehemaligen Landesjugendheims. Durch die parkähnliche Anlage, die Schaugärten, zum Friseur oder in die Gärtnerei. Das Sozialpädagogische Betreuungszentrum, wie es nun heißt, wurde 2015 mit einem Neubau adaptiert und ist heute Heimat für rund 75 sozial benachteiligte und gefährdete Kinder und Jugendliche, Ausbildungsort für Lehrlinge des BFI und Arbeitsort für viele SozialpädagogInnen, PsychologInnen und vielfältige weitere Berufsgruppen. Die Architektur für solch einen Ort muss ein Gefühl von Zuhause geben und Orientierung bieten, Perspektiven aufzeigen – und sich in die Weinviertler Landschaft, die geprägt von Hügeln und Weingärten ist, sanft einschmiegen.

Text
Julia Gschmeidler
 Fotos
Niko Havranek
Leonie (li.) und Joelle wohnen und arbeiten im SBZ

Gekonnt wickelt Leonie eine Haarsträhne nach der anderen auf den Lockenstab, wartet ein paar Sekunden, um sie dann in gewünschter Form vom Stab springen zu lassen. Sie ist bereits im dritten Lehrjahr zur Friseurin und Perückenmacherin und man sieht ihr die Routine an. Im Friseursalon HaarGenau, einer sozialpädagogischen Lehrwerkstätte der Einrichtung, übt sie täglich, schneidet, färbt und föhnt die Haare der Kundschaft. Ihr Heimweg nach getaner Arbeit: wenige Minuten. Denn gleich nebenan lebt Leonie in der Wohngemeinschaft „Motion“ mit acht weiteren jungen Menschen. Seit 2020 wohnt und arbeitet die 18-Jährige im Sozialpädagogischen Betreuungszentrum (SBZ) Hollabrunn, hat sich hier neue Perspektiven für ihr weiteres Leben aufgebaut, neue Freundschaften geknüpft und sich neuen Bezugspersonen anvertraut. Auch ihre Kollegin Joelle ist seit zwei Jahren hier, lebt in einer WG und macht ihre Ausbildung im Friseursalon. „Die Gemeinschaft ist harmonisch, wir können mit den Ausbildnerinnen über alles reden, ich fühle mich wie in einer kleinen Familie“, sagt sie.

Neben dem Friseursalon gibt es noch drei weitere Stationen am Gelände, bei denen die Jugendlichen ihre Ausbildung absolvieren können – etwa in der Gärtnerei GrünReich, der Floristik young flowers oder dem café hollakoch. Johannes Rotter ist Küchenleiter des Lokals, bereitet hier mit den Lehrlingen veredelte Hausmannskost zu, wie er die Karte selbst bezeichnet. Die täglich wechselnden Mittagsgerichte sind für die Jugendlichen, die im SBZ leben oder arbeiten, für die Mitarbeitenden genauso wie für die Hollabrunner Bevölkerung. Viele Stammgäste kommen vorbei, oft sind es PensionistInnen oder auch Menschen, die beruflich in Hollabrunn zu tun haben.

»Unser Konzeptlokal verbindet Jung und Alt, ist beliebt bei SozialarbeiterInnen, der Nachbarschaft, Mitarbeitenden der BH und Polizei. Das Mittagsbuffet soll ein Begegnungsraum sein, der Einblick in die sozialpädagogischen Konzepte gibt und gleichzeitig die Jugendlichen nach dem Normalitätsprinzip trainiert.«

Rotter bringt den Lehrlingen nicht nur das Kochen bei, sondern auch die Küchenpflege und die Interaktion mit KundInnen am Buffet. Bevor der Neubau 2015 fertiggestellt worden ist, war die Küche noch im Bestandsgebäude untergebracht, sie war eng und nicht funktional. Heute erzählt er stolz von den selbstreinigenden Decken, den hochwertigen Kippbratpfannen und dem Sozialraum, den es in herkömmlichen Lokalen oft nicht gebe. Am späten Vormittag ist Hochbetrieb in der Küche, heute gibt es Zwiebelrostbraten und Germknödel, die gerade per Hand geformt werden. Durch ein Fensterband können die MitarbeiterInnen dabei die Arbeit in der Gärtnerei beobachten, wo gerade Unkraut gejätet wird. „Bevor ich bestelle, schließe ich mich immer mit der Gärtnerei kurz, was sie gerade anbieten können. Meist beziehen wir Wurzelgemüse, Paprika, Zucchini und Salat aus dem Feld direkt vor unseren Augen“, sagt Rotter.

Küchenleiter und Lehrmeister Johannes Rotter

Neues Bild von Sozialpädagogik

Der Neubau mit den Wohngemeinschaften und Lehrwerkstätten sowie die Sanierung des Verwaltungsgebäudes seien zwingend notwendig gewesen, meint Direktorin Jeanette Stadt. „Der Leidensdruck war sehr groß, der Platzmangel akut. Die Räumlichkeiten boten keinen Komfort, waren nicht modern und ansprechend“, sagt sie. Dabei sei es gerade für die Jugendlichen wichtig, am Puls der Zeit zu sein, um auch adäquate Arbeitsleistung erbringen zu können. Was man auch nicht mehr haben wollte, waren Großheime, in denen hinter dicken Mauern die Kinder und Jugendlichen abgeschottet und stigmatisiert wurden. Direktorin Stadt möchte das Bild von Sozialpädagogik in den Medien und der Öffentlichkeit transformieren und aufwerten. „Mit nichts geht dies besser als mit einem modernen, offenen Bau, der das Leben widerspiegelt und zeigt, dass wir nichts zu verstecken haben. Der zeigt, dass wir hier wichtige, großartige Arbeit leisten“, sagt die Leiterin. „Die Menschen, die hier arbeiten, machen das mit Herz, Hirn und Verstand und benötigen einen Rahmen, um den Kindern Stabilität und Sicherheit zu geben.“ Auch die Kinder müssen laut Stadt sein können, wer sie sind, und wachsen können, um sich dann zu entfalten.

Jeanette Stadt, Direktorin des Sozialpädagogischen Betreuungszentrums Hollabrunn
Katharina Fuchsberger, sozialpädagogische Leiterin

Wie ein kleines Dorf

„Die Kombination aus Transparenz, Großzügigkeit und privaten Strukturen war die größte Herausforderung bei der Planung“, meint Katharina Fuchsberger. Sie ist sozialpädagogische Leiterin hier und hat die baulichen Veränderungen von Anfang an verfolgt. Es gehe um ein gemeinsames Leben fernab eines Internatcharakters. Die Gebäude sollten Einblicke gewähren und diesen Einblick gleichzeitig auch gut schützen. „Diese Anforderung ist sehr gut umgesetzt – wir haben öffentliche, halb-öffentliche und private Bereiche, die wie in einem kleinen Dorf funktionieren. Es gibt eine klare Differenzierung und die ist auch für alle Gäste selbsterklärend“, sagt sie. Der Neubau, ein zweistöckiger, 93 Meter langer, mäandrierender Baukörper, teilt sich in Wohn- und Arbeitsbereiche auf, die räumlich und organisatorisch klein strukturiert sind. „Den Eltern fällt es einfacher, die Kinder hier zu lassen, wenn der erste Eindruck passt und die baulichen und atmosphärischen Gegebenheiten stimmen“, meint Fuchsberger.

 

In einer der Wohngemeinschaften sitzt Sozialpädagogin Verena Berger gerade mit zwei Jugendlichen im Wohnzimmer und spielt eine Partie Uno. Hier findet das Leben statt, hier schauen die Jugendlichen fern, spielen Playstation oder sitzen am Abend auf der angrenzenden Terrasse zusammen und heizen den Griller an. Jede rund 300 m2 große Wohngemeinschaft besteht aus Ein- und Zweibettzimmern mit eigenen Badezimmern, einer gemeinsamen Küche, Wohnzimmer und Medienraum sowie einen Raum für die BetreuerInnen, die auch in der Nacht vor Ort sind. Die breiten Fensterfronten holen die Natur ins Innere, alles ist hell und hochwertig.

„Wir wollen den Kindern diesen kleinen Luxus gönnen, es drückt auch eine gewisse Wertschätzung aus“, heißt es von der Leitung. „Wir merken, dass sich Konfliktpotenzial durch die Großzügigkeit schneller auflöst“, sagt Sozialpädagogin Berger. Vor dem Neubau sei es aufgrund der beengten Situation schneller zu Streitigkeiten gekommen, heute habe man genug Räume, um auseinanderzugehen und erst später wieder zusammenzufinden.

»Wir bieten einen Schutzraum, in dem Wunden heilen können, wo die jungen Menschen das Vertrauen in sich selbst stärken können. Das ist eine zurückgezogene, sensible Zeit, in der die jungen Menschen herausfinden, wer sie überhaupt sind, um wieder auf andere zugehen zu können.«

Picknick im Grünen

Eine Bewohnerin, die ihr Einzelzimmer besonders genießt, ist Jessi. „Wenn man Zeit für sich braucht, ist es cool, so einen Rückzugsort zu finden“, sagt sie. Die Gymnasiastin fühle sich hier sehr wohl, über die Ferien arbeitet sie freiwillig in der Gärtnerei mit, erntet und stellt Gemüsekisten zusammen. Ihre Freizeit verbringt sie gerne im Garten, wo heute Nachmittag auch ein Picknick stattfindet. Die parkähnliche Anlage, umgeben von dickstämmigen Ahornbäumen, das ist auch der Lieblingsplatz von Direktorin Stadt. „Hier entlangzuflanieren und zu sehen, wie groß und vielfältig die Einrichtung ist, wie viele unterschiedliche Menschen hier Platz finden, das beeindruckt mich sehr.“ Auch das architektonische Zusammenspiel zwischen dem Bestandsgebäude aus dem 19. Jahrhundert und dem langen Block mit der verspielten Fassade gefalle ihr sehr gut.

»Die optisch sehr ansprechenden Räumlichkeiten werden mit Leben und Hingabe durch die dort lebenden und arbeitenden Menschen gefüllt. Das Wohlgefühl und die Freude überwiegen, trotz der ein oder anderen Anregung zur Verbesserung, was Hitzeentwicklung im Sommer und manch Störung durch technische Tücken betrifft.«

Die vertikalen Farbstriche in Grüntönen überziehen die Fassade des Neubaus, verdichten sich an Eingängen – eben dort, wo Leben zusammenkommt. Für Stadt spiegelt dieser Rhythmus auch etwas ganz anderes wider: das Weinviertel. „Man kann darin die Rebstöcke erkennen, wie sie im Frühjahr austreiben und wachsen – bis sie die Blätter verlieren und wieder alles von vorne beginnt. Das ist der Zyklus des Lebens“, sagt sie. Auch die mäanderförmigen Baukörper, die durch ihre Struktur Innenhöfe bilden, folgen laut Stadt der Logik Weinviertler Bauten. „Das Weinviertel ist durch seine sanften Hügel eine ruhegebende Landschaft – diese beruhigende Grundstimmung durch die Architektur zu etablieren, ist wirklich gut gelungen“, sagt die Direktorin zufrieden, während ihr Blick über das Gelände schweift. Hier finden die Kinder und Jugendlichen nicht nur ein Zuhause auf Zeit, sondern den Beginn einer neuen und nachhaltig wirksamen Zukunft.